Endlich, nach über einer Woche des pausenlosen Wanderns entlang des Jakobswegs, komme ich in dem kleinen Nest Navarrete an! Hier verbringe ich zwei Nächte in der wunderschönen Posada Ignatius – mein persönliches Tor zum Paradies! Wer sagt, dass die moderne Pilgerreise nicht auch ein zweitägiges logieren im Herzen der Weinregion La Rioja beinhalten darf? Mein Pilgerego und meine strapazierten Beine haben jedenfalls kein Problem damit. Also schwebe ich die kurze Tagesetappe, vorbei an Weinfeldern, kleinen Terrassen und murmelnden Bächlein bis ich mein Ziel erreiche. Warum ich gerade hier pausieren möchte? Ich kann es nicht mit rationalen Argumenten begründen, mein Bauchgefühl (in letzter Zeit führen wir rege Konversationen) hat mir gesagt – hier sollst du bleiben! Schon der erste Eindruck auf dem Weg ins Ortszentrum stimmt mich zuversichtlich – Navarrete wird als kultur- und kunsthistorisches Kleinod, entlang der Weinstraße der Rioja betitelt. Ich fühle mich auf Anhieb verzaubert von dem kleinen Örtchen: es ist so ruhig hier, nur der Wind raschelt in den Bäumen. Gedrungene alte Steinhäuser, verschlungene Altstadtgässchen und besonders die imposante Kirche La Asunción, gegenüber dem winzigen Hauptplatz, haben es mir angetan.
Sehr freundlich und herzlich werde ich von den Besitzern der Posada, einem englisch-spanischen Pärchen begrüßt. Das Gefühl, in Spaniens 15 Jhdt. zurückversetzt worden zu sein, überwältigt mich. Dunkle Holzbalken vor dem Hintergrund der weiß getünchten Wände, Steinböden und Kerzenhalter bestimmen das mittelalterliche Ambiente. In meinem Zimmer angekommen, verlasse ich gut zwei Stunden lange nicht das Badezimmer – unfassbar wie sehr pilgern doch zum ästhetischen Verfall beiträgt, sinniere ich. Pilgern reinigt zwar von innen, aber eine Generalsanierung meines äußeren Aspektes ist dringend von Nöten!!! Nach erledigter Arbeit, erkunde ich meine Unterkunft: auf der kleinen Dachterrasse lasse ich den Blick über die Häuserdächer und die liebliche Weinregion schweifen. Die Unterkunft bietet neben Massagen auch noch Weinführungen und Verkostungen aus der Hauseigenen Bodega an – perfekt!
Die nächsten zwei Tage tauche ich einfach ab, ich suche Ruhe und Rückzug. Obwohl es sich in einer so kleinen Stadt kaum vermeiden lässt, der einen oder anderen Pilgerbekanntschaft über den Weg zu laufen und sich dabei in ein Gespräch zu verstricken, bin ich während dieser Tage doch sehr auf meine Abgeschiedenheit bedacht. Zum ersten Mal seit Beginn meiner Pilgerreise habe ich das Gefühl, als würde der Jakobswegs nicht nur an die körperliche, sondern auch an die seelische Substanz gehen. Gefühle und Gedanken bemächtigen sich meines Geistes, ich ertappe mich dabei, wie ich zu Tränen gerührt in der Kirche sitze, während um mich herum die Zeit stillzustehen scheint. Was ist das nur mit dem Pilgern? Da bin ich nun, irgendwo ganz alleine in einem spanischen Dorf, weit weg von zu Hause und meinem alltäglichen Leben, nur mit 8 kg Gepäck am eigenen Leib unterwegs und fühle mich – ja wie??? Erschöpft, Überwältigt, Wagemutig, Lebendig, Glücklich!
Endlich habe ich die Möglichkeit, über die bereits zurückgelegte Pilgerstrecke und meine Erlebnisse zu reflektieren, kann Eindrücke zu Papier bringen, Postkarten verschicken, stundenlang Café trinken, ausschlafen, mein Buch lesen, andächtig in der Kirche sitzen, tief durchatmen, die Atmosphäre aufsaugen und – köstlichen Rotwein trinken!